Gude, die Nixe vom Bachsee
Vor vielen hundert Jahren schritt an einem warmen Sommertage ein junger Wandersmann durch das romantische Ragöser Tal, das damals noch eine große, blühende Waldwildnis bildete. Zur Seite des Weges glitzerte das Ragöser Fließ durch das grüne Zweiggewirr der Bäume. Seinen Rand umsäumten Vergißmeinicht, Knabenkraut und goldgelber Hahnenfuß, und auch am Fußeder hochwüchsigen Eichen, Buchen und Birken sowie der hohen düsteren Tannen blühten Waldblumen in üppiger Menge. Würzige Erdbeeren, dunkelblaue Heidelbeeren und purpurne Himbeeren luden zum Genusse ein. Zu den dichtbelaubten Kronen der Waldriesen schlug der Buchfink, und der Specht, der stets fleißige Zimmermann der Vögel, hackte und hämmerte an den Stämmen. Schnurrend eilte ein Eichhörnchen am Baume empor und guckte hinter dem schützenden Aste mit leuchtenden Augen zu dem Störenfried hinab. Bei all dem Singen und Blühen ringsherum erwachte auch in dem treuherzig dreinschauenden,hübschen Burschen die Freude und Lust am Leben; er schob sich die Mütze von dem blonden Krauskopf zurück und schickte einen Jauchzer durch die sonnenerfüllte Waldesluft. Sein Ziel war die Waldmühle, die in der Nähe des Bachsees lag. Dort gedachte er als Müllergeselle einzutreten. Vom Bachsee hatte er schon viel in seiner Heimat erzählen hören. Den wollte er sich zuerst ansehen, bevor er sich beim Waldmüller meldete. Und dann, nachdem er den kleinen Tannenhang erklommen hatte, lag der See in seiner schwermütigen Einsamkeit vor ihm. Tief, tief spiegelten sich in seiner smaragdgrünen Wasserfläche die alten Bäume des Ufers und die goldumränderten Sommerwolken wider. Dort unten aber, wo das hohe Schilf stand und die gelben und weißen Wasserrosen blühten, ruhte unter dem Schatten einer Weide ein schlummerndes Mädchen von zarter, fremdartiger Schönheit. All die Märchen, die der Müllergeselle als Knabe von Nixen und Waldelfen gehört hatte, fielen ihm bei ihrem Anblick ein. Ihre schneeweißen Füße bespülten wie liebkosend die kleinen Wellen des Sees. Lange, blondeHaare, die in der Sonne wie flüssiges Gold schimmerten, umfluteten ihr rosig angehauchtes Gesicht mit dem purpurnen, kleinen Mund und den mit schwarzen Wimpern besetzten Augenlidern. Und als sie diese dann, von dem Geräusch seiner Schritte geweckt, erschrocken aufschlug, schien ihm das liebliche ernste Bild des Sees aus ihren Tiefen entgegenzustrahlen. Zuerst wollte die Jungfrau beim Anblick des fremden Mannes scheu entfliehen, doch dann fand auch sie Wohlgefallen an ihm, und nicht lange, so entbrannten ihre Herzen in heftiger Liebe. Von da ab trafen sie sich täglich an derselben Stelle, wo sie sich zuerst gesehen hatten. Aber jedesmal, wenn sich die Sonne über den düsteren Tannen des jenseitigen Ufers ihrem Untergang zuneigte, trennte sich das Mädchen hastig von ihrem Freunde. Er ging dann heim zu der kleinen Waldmühle, während sie zum Gestade des Sees hinabeilte. Auch durfte er sie niemals begleiten, ja sich nicht einmal mehr nach ihr umsehen, sobald sie erst Abschied voneinander genommen hatten. Darum hatte sie ihn gleich am ersten Tage gebeten, und da er sie so maßlos lieb hatte, tat er ihr in allem den Willen. Nachdem sie sich zum erstenmal geküßt hatten, schenkte die Jungfrau ihrem Liebsten einen seltsam geformten, altertümlichen Ring. Dabei sagte sie zu ihm:"Laß ihn nie von deinem Finger, denn an ihm hängt unser ganzes Glück. Fürchtest du je, mich zu verlieren, so brauchst du ihn nur ein paarmal am Finger herumzudrehen und dabei zu sprechen: "Gudelein, Gudelein, Komm zu deinem Liebsten fein!" Dann hast du mich wieder!" Der junge Müller versprach, den Ring zu hüten wie seinen Augapfel. Einmal beim Tändeln und Kosen hatten sie die Zeit des Abschieds versäumt. In dem Augenblick, als die Sonne hinter dem Tannenwald verschwunden war, trat ein alter, finster aussehender Mann mit einem lang herabhängenden, schneeweißen Bart aus dem Gebüsch. Der Jüngling erschrak heftig, aber in demselben Augenblick war Gude verschwunden. Gleichzeitig klang es wie leises Flüstern und Mahnen aus den Tiefen des Bachsees zu ihm herauf. Da entfloh er,ohne sich noch einmal umzusehen. Doch am nächsten Tage schon stand er wieder am Ufer des Sees. Sein Leben war ihm ohne die Geliebte verleidet, und wenn er nun auch wußte, daß sie kein gewöhnliches Menschenkind sei,tat das seiner heißen Liebe zu ihr keinen Abbruch, sondern das Geheimnis, das sie ihm so jäh entrückt hatte, machte sie nur noch begehrenswerter in seinen Augen. Plötzlich gedachte er des Ringes und seines Zauberspruches. Und kaum, daß er ihn an seinem Finger gedreht und dazu gesprochen :"Gudelein, Gudelein, Komm zu deinem Liebsten fein!" hatte er die Geliebte wieder. Den ganzen Sommer hindurch währten ihre heimlichen Zusammenkünfte. Aber niemals sprach sie mit ihm über jenen Abend, an dem der alte finstere Mann erschien und sie zu gleicher Zeit aus seinen Armen entschwunden war. Als er sie einmal danach fragte, flog ein Schatten über ihr liebliches Antlitz, und ihre herrlichen Augen füllten sich mit Tränen. Da dranger nicht weiter in sie, aus Furcht, ihr wehe zu tun. Jedes mal beim Scheiden mahnte sie ihn, den Ring niemals von seinem Finger zu lassen. Sonst wäre es mit ihrem Glück vorbei. Der Waldmüller, bei dem der Jüngling im Dienst stand, hatte eine Tochter von achtzehn Jahren, die sich sterblich in den hübschen, fremden Burschen verliebt hatte. Sie sah sofort den Ring an seinem Finger und merkte auch, daß seine häufigen Waldspaziergänge irgend eine Bewandtnis haben mußten. Heimlich schlich sie ihm einst nach, erblickte ihn in den Armen der anderen und hörte auch die flehende Bitte, die Gude in betreff des Ringes an ihren Liebsten richtete. DieEifersucht ließ sie nun Tag und Nacht auf ein Mittel sinnen, in den Besitz des kostbaren Kleinods zu gelangen, dessen Verlust für den Müllergesellen die Vernichtung seines Liebesglücks bedeutete. Zuletzt gab ihr der Haß gegen die andere einen teuflischen Gedanken ein. In den Abendtrunk,den sie täglich dem Gesellen brachte, mischte sie ein stark wirkendes Schlafmittel, das sie selbst aus allerlei Kräutern des Waldes zusammengestellt hatte. In der Nacht aber, als der Jüngling in tiefem, totenähnlichem Schlafe lag, entwendete sie ihm den Ring. In dieser Nacht hatte der so heimtückisch Beraubte einen seltsamen Traum: Er stand allein im finsteren Walde am Ufer des Bachsees und sah aus seinen Fluten eine Wassernixe emportauchen, deren süßes, trauriges Antlitz die Züge der Geliebtentrug. Die sang mit leise schluchzender Stimme: "Nun ist dir geraubet mein Ringelein, Nun ward wieder Nixe die Liebste dein. O Menschenlist,o Herzelein! Fahr` wohl, mein Lieb, in Ewigkeit!" Als der Müllergeselle am nächsten Morgen seinen Verlust bemerkte und rasend vor Schmerz demBachsee zueilte, fand er dort, wo er die schlummernde Gude zum erstenmal erblickt hatte, eine weiße, abgepflückte Wasserrose, die in ihrem traumzarten,kaum erschlossenen Kelch drei purpurrote Blutstropfen trug. Und alser die Blume dann aufnahm, flossen die Blutstropfen wie zu einem Ringe zusammen. Seine geheimnisvolle Geliebte aber hat er niemals wieder gesehen. Doch trifft sich seit jener Zeit ein Liebespaar am Ufer des Bachsees, schluchzt und klagt es leise aus den Fluten wie eine traurige Mädchenstimme. Das ist Gude, die Wassernixe, die um ihr jäh zerstörtes Menschenglück weint. Quelle:"Eberswalde in Sage und Geschichte, Sitte und Brauch" von Rudolf Schmidt,Lesebuch, 1912 |